Gisela Kerntke, KulturQuer QuerKultur Rhein-Neckar e.V.: Die Türkische Literatur – Die Türkische Bibliothek – Ausstellungseröffnung am 9.10.2008
Lieber Herr Jahre, liebe Cornelia, liebe Frau Jungmann, lieber Mehmet, liebe Nihal, liebe Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,
ich freue mich über die gemeinsamen Veranstaltungen zur türkischen Literatur mit und in der Stadtbibliothek Mannheim.
Unser Verein KulturQuer QuerKultur Rhein Neckar e.V. hat es sich sich zur Aufgabe gemacht, die Kunst und Kultur der in unserem Land lebenden Menschen mit mehreren kulturellen Hintergründen und Migrationserfahrungen zu fördern und zu präsentieren. Heute geht es angesichts des aktuellen Themas der Buchmesse darum, die Literatur der Türkei in unserem Land besser bekannt zu machen, und außerdem den hier lebenden Deutschtürken und Deutschtürkinnen zu zeigen, dass wir an ihrer Herkunftskultur Interesse haben. Denn nur wechselseitige Kenntnis und Respekt vor der Kultur der anderen führt zu einem besseren Miteinander hier bei uns.
Die Türkei wirbt mit dem Motto: „Türkei – faszinierend und farbig“ für ihren Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse, die Namen der Autoren, die mit neuen Büchern zur Frankfurter Messe kommen, lassen ein vielfältiges Bild der Türkei aufscheinen. Orhan Pamuk und Yasar Kemal sind auch hier bekannt, aber wer kennt schon Murathan Mungan, der als bekennender Homosexueller in der Türkei Kultstatus besitzt? Oder Mario Levi, den jüdischstämmigen türkischen Schriftsteller, der sehr bekannt wurde durch seinen Roman „Istanbul war ein Märchen?“
Den vielversprechenden Auftritt des Gastlandes Türkei hat die Buchwelt einer Frau zu verdanken, die alle im Literaturbetrieb der Türkei respektvoll eine Kämpferin nennen: Müge Gürsoy Sökmen, die links-feministische Verlegerin aus Istanbul, Vizevorsitzende des Organisationskomitees. Sie hat erreicht, dass diese Kommission mehrheitlich mit Vertretern aus der Zivilgesellschaft besetzt ist, Autoren und Verleger. Das ist sicher ein Sieg für die Zivilgesellschaft des Landes, das Atatürk einst als Kulturnation definierte.
Nun ein paar Worte zur Geschichte der türkischen Literatur:
Die türkische Literatur – d.h. die Literatur in türkischer Sprache – war in ihrer Frühzeit die mündliche Literatur der Nomaden mit Berichten oder Sagen über die Heldentaten, Siege und Niederlagen, Liebe zu Frauen, Liebe zum Vaterland und zur Natur – wir erinnern uns an unser Nibelungenlied.
Die Literatursprache war zu jener Zeit das Persische und das Arabische, ein berühmter Vertreter aus jener Epoche war der aus Balch im heutigen Afghanistan stammende Mystiker, Theologe und Philosoph Dschelaleddin Rumi – Mevlana genannt – , der im 13. Jahrhundert in Konya, der heutigen Türkei, lebte und lehrte.
Zu dieser Zeit wirkte auch der erste Vertreter der türkischsprachigen Literatur – Yunus Emre – in Westanatolien, er schrieb Gedichte, die formal von der persisch-arabischen Literatur sowie der türkischen Volksdichtung beeinflusst sind und die ihre Themen aus der religiösen Mystik beziehen. Sein Einfluss reicht bis heute fort und er wird immer noch häufig gelesen.
In der altosmanischen Hof- und Gelehrtendichtung hingegen herrschten die poetischen Vorbilder aus Persien und klassisch-islamische Stoffe vor.
In der hochosmaischen Periode im 15. und 16. Jahrhundert gewann auch die Prosa verstärkt an Bedeutung, vor allem die Chronistik. Die bedeutendsten Vertreter aus dieser Epoche sind Koca Nizanci und Mustafa Ali. Sie konnten dem türkischen Selbstwertgefühl auf dem Höhepunkt der Macht des Osmanischen Reiches glänzend Ausdruck verleihen. Sie verfassten berühmte und grundlegende Kompendien zur Osmanischen Geschichte.
In Blüte stand zu jener Zeit auch die sog. Diwan-Dichtung: höfische Versepik und Liebeslyrik. Beispiele dafür sind Füzuli und Mahmud al-Baki. Wegen ihrer Stilistik und der komplizierten persisch-arabischen Sprachelemente konnten sie allerdings nur von einem kleinen Teil der – damals überwiegend analphabetischen – Bevölkerung verstanden werden.
Diese erfreute sich eher an der nur mündlich überlieferten Volksliteratur mit Märchen, Balladen, Legenden, Sprichwörten sowie an dem bis heute gepflegten Schattenspiel mit Hacivat und Karagöz. Diese Genres wurden auch zu einem Ventil für Sozialkritik, Spott und Satire gegen die zunehmend korrupt agierende Oberschicht.
Im 17. Jahrhundert verfasste der Reiseschriftsteller Evliya Celebi sein monumentales zehnbändiges Reisebuch „Seyahatname“, in dem er unterhaltsam aber auch sachkundig, aber auch mit vielen fiktiven Elementen, über seine Reisen in viele Länder des Osmanischen Reiches und nach Nord- und Osteuropa berichtete.
Viel Lebensfreude und eine freiere Sicht auf Dinge und Menschen brachte im 18. Jahrhundert die Lyrik Nedims, als sich während der sog. Tulpenperiode (Lale Devri) das Osmanische Reich allmählich westlichen Einflüssen zu öffnen begann.
Die politischen Umwälzungen ab Mitte des 19. Jahrhunderts führten auch zu einer Neuorientierung der Türkischen Literatur. Der westliche, vor allem der französische, Einfluss machte sich massiv in der türkischen Sprache und Literatur bemerkbar. Vielen Schriftstellern mit liberalen Neigungen brachten ihre Werke und Gesinnungen Jahre des Exils in westlichen Ländern ein, was den westlichen Einfluss weiter verstärkte. Die bedeutendsten Vertreter sind Namik Kemal und Ahmed Midhat.
Während des despotischen Regimes von Sultan Abduhamid II. flohen ebenfalls viele Autoren ins Exil oder in die innere Emigration. Diese Lyrik und Prosa war oft voll düsterer Symbolik und Esoterik. Eine Ausnahme bildete Tevfik Fikret, der am Vorabend des Ersten Weltkriegs vor falschem Heroismus und einem Ende der Zivilisation warnte.
Er experimentierte mit neuen lyrischen Formen und gilt als Klassiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Die Literatur der neuen türkischen Republik seit Atatürk stand im Zeichen der Bemühungen um ein neues Nationalbewusstsein. Ausdruck des Bruchs war die Einführung des lateinischen Alphabets (1928) anstelle des arabischen. Repräsentanten der „Nationalliteratur“ waren vor allem Romanciers: die Frauenrechtlerin Halide Edip Adivar, außerdem die auch politisch tätigen Yakup Kadri Karaosmanoglu und Resat Nuri Güntekin, deren Themen der Freiheitskrieg, das Streben nach neuem türkischem Selbstbewusstsein und das veränderte Leben der im Umbruch begriffenen Gesellschaft waren. Der bedeutendste Vertreter unter ihnen – Güntekin – schildert in seinem Romanen die unüberwindlich scheinende Kluft zwischen städtischen Intellektuellen und rückständiger anatolischer Landbevölkerung.
Nach dem Tod Atatürks 1938 treten anstelle der nationalen Themen unideologisch gesinnte Autoren wie z.B. Sebahattin Ali mit der Beschreibung der anatolischen Provinz und dem Leben der kleinen Leute mit eher mitfühlendem als belehrenden Ton. Oder Sait Faik mit seinen Miniaturen über die Vielvölkerstadt Istanbul in melancholischem Stil.
Der Lyriker und Dramatiker Nazim Hikmet – als Marxist zu Lebzeiten und auch heute wieder offiziell verfemt – zeigte mit seinen Versepen neue Wege auf. Von ihm beeinflusst sind Orhan Veli und andere mit zu „neuer Sachlichkeit“ neigender Alltagslyrik, die die bisher gültige Ästhetik des Poetischen auf den Kopf stellt.
In den 50er Jahren kreisen viele Autorinnen und Autoren kritisch um das Thema dörfliches Leben oder bieten eine realistische Schilderung der Lebensumstände z.B. Yasar Kemal, Aziz Nesin und Fakir Baykurt.
Bedeutende Erzählerinnen befassen sich mit den Themen „Leben der Frauen“ und Frauenemanzipation, z.B. Leyla Erbil und Adalet Agaoglu.
Wegen ihrer Positionen verbringen viele Autoren viele Jahre im Gefängnis, weshalb dieses auch die „Schule der türkischen Literatur“ genannt wird.
Zensur und mehrere Militärputsche hemmen die Entwicklung der türkischen Literatur.
Durch die Arbeitsmigration nach Westeuropa, vor allem Deutschland, kommen auch viele türkische Schriftsteller hierher, die – zunächst ins Deutsche übersetzt – in kurzer Zeit aber auch in deutscher Sprache schreiben – wie Aras Ören, Yüksel Pazarkaya, Emine Sevgi Özdamar, Feridun Zaimoglu oder Zehra Cirak. Die meisten von ihnen haben bereits bedeutende deutsche Literaturpreise erhalten. Meist befassen sie sich mit dem Leben in Deutschland oder in beiden Kulturen und werden mittlerweile auch in der Türkei wahrgenommen.
Wichtige Vertreter der neuen türkischen Literatur sind außerdem der bekannte Nobelpreisträger Orhan Pamuk und die junge Schriftstellerin Elif Shafak, die in den vergangenen Jahren mit ihrem Roman „Der Bastard von Istanbul“ in der Türkei aber auch international größeres Aufsehen erregte.
Der Schweizer Unionverlag bringt aus Anlass der Tatsache, dass die Türkei Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse ist, wichtige zeitgenössische türkische Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit je einem Werk in der Reihe „Die Türkische Bibliothek“ in deutscher Übersetzung heraus. Dazu gehören einige Anthologien, Romane und Erzählungen von Autoren und Autorinnen der Klassischen Moderne: Halide Edib Adivar, Adalet Agaoglu und Leyla Erbil, Yusuf Atilgan und Oguz Atay, Halid Ziya Usakligil, Memduh Sevket Esendal, Ahmet Hamdi Tanpinar, Sebahattin Ali, sowie die Vertreter der Literatur nach 1980: Murathan Mungan, Hasan Ali Toptas, Asli Erdogan, Ahmet Ümit und Murat Uyurkulak.
Auf diesen Autor dürfen Sie sich ganz besonders freuen: er wird – wie viele der genannten noch lebenden Autorinnen und Autoren – nicht nur in Frankfurt auf der Buchmesse lesen, sondern auch am 13.10., also in wenigen Tagen, hier in der Stadtbibliothek Mannheim, auch in Kooperation mit unserem Verein, und zwar im großen Saal des Dalberghauses, in N 3, 4, dem barocken Bibliotheksgebäude gegenüber vom Stadthaus N 1. Besonders herzliche Einladung dazu nicht nur an alle Literaturinteressierten am Ort, sonders auch an alle türkischsprachigen Menschen in Mannheim und Umgebung: der Autor wird in türkischer Sprache lesen und Sabine Adatepe liest die Passagen in deutscher Übersetzung und moderiert das anschließende Gespräch.
Jetzt möchte ich Ihnen auszugsweise drei Autorinnen vorstellen, deren Werk ebenfalls in der Reihe „Die Türkische Bibliothek“ erscheint:
Leyla Erbil, geb. 1931 in Istanbul, studierte englische Philologie in Istanbul, arbeitete am türkischen Generalkonsulat in Zürich und engagierte sich für die türkische Arbeiterpartei, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der Roman „Eine seltsame Frau“ ist 1971 in der Türkei eschienen. Er schildert die Suche der linken Studentin Nermin nach einer humaneren Welt. (Lesung eines Abschnitts aus diesem Buch)
Adalet Agaoglu wurde 1929 in der Provinz Ankara geboren und studierte französische Sprache und Literatur. Seit 1948 veröffentlicht sie Gedichte, Theaterstücke und Hörspiele. Ab 1951 arbeitet sie beim Rundfunk und ist als Übersetzerin tätig. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Ihr Roman „Sich hinlegen und Sterben“ ist 1973 in Istanbul erschienen und schildert eine private Lebenskrise der Hochschuldozentin Aysel. (Lesung eines Abschnitts aus diesem Buch)
Asli Erdogan wurde 1967 in Istanbul geboren, studierte dort Informatik und Physik und arbeitete bis 1994 am Kernforschungszentrum in Genf, bevor sie für zwei Jahre nach Rio de Janeiro ging. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin in Istanbul. In ihrem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ schildert sie die Gefühle von Özgür, einer jungen türkischen Akademikerin, die sich von der ebenso faszinierenden wie auch bedrohlichen Stadt Rio de Janeiro nicht lösen kann und wie in einem Strudel in die Labyrinthe der verstörenden Favelas gerät. (Lesung eines Abschnitts aus diesem Buch)
Die Werke der Türkischen Bibliothek sind auch in der hiesigen Stadtbibliothek vorhanden, ein Bücherverzeichnis – erstellt für die Bestände der Stadtbibliotheken Mannheim, Heidelberg und Ludwigshafen – weist ihren Standort nach.
Bei dem heutigen Büchertisch, betreut von Frau Sevim Jungmann vom Türkischen Akademikerverein Rhein-Neckar, können alle Bücher auch käuflich erworben werden.
Die Ausstellung „Die Türkische Bibliothek“, die wir jetzt eröffnen, gibt einen Querschnitt durch die türkische Literatur. Sie wurde gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung und der Stiftung Lesen und ist ab heute vier Wochen lang in diesen Räumen zu besichtigen, später wird sie an verschiedenen Orten der Metropolregion und der näheren Umgebung gezeigt werden.
Die Robert-Bosch-Stiftung hat die Initiative zur Herausgabe der „Türkischen Bibliothek“ im Union-Verlag sowie zur Ausstellung ergriffen, „weil sie mit einer großen Bandbreite an Texten die soziale und kulturelle Komplexität und Diversität der Türkei aufzeigt“ und einen Gesamteindruck von den geistigen Prozessen gibt, die die neue Türkei geformt haben und ihre Menschen bewegen. Die „Türkische Bibliothek“ präsentiert Meilensteine der türkischen Literatur von 1900 bis zur Gegenwart in den verschiedenen Genres. Das Schwergewicht liegt dabei auf jenen Autorinnen und Autoren, die trotz ihrer Bedeutung bislang der deutschen Leserschaft nicht ausreichend bekannt gemacht wurden. Die insgesamt zwanzig Bände umfassende Bibliothek erscheint voraussichtlich bis 2010. Die Ausstellung präsentiert einen Überblick zur Türkischen Literatur sowie Autorentafeln.
Dank an die Stadtbibliothek Mannheim, vor allem an Herrn Jahre und Frau Dorn, für die gute Ausstellungsmöglichkeit und die ausgezeichnete Kooperation.
Während das Musikduo von Mehmet Ungan und Nihal Bulut uns ein weiteres Mal mit ihren orientalischen Klängen erfreuen wird, sind Sie alle herzlich eingeladen, sich bei Getränk und Gebäck die Ausstellung „Türkische Bibliothek“ anzusehen und darüber miteinander ins Gespräch zu kommen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!